Im Interview erklärt Schauspielerin und Autorin Vreni Achermann, was die Rolle der Frau Schneebeli im Theaterstück „Chuenägele – Eine leise Utopie“ für sie bedeutet.

Die alte Frau Schneebeli sitzt auf ihrem Rollator, zupft aus einem Kissen die Federn und lässt es schneien. Was bedeutet dieses Bild für Sie?
Ich wollte, dass das Publikum von Anfang an ihre Einsamkeit erlebt. Sie ist ganz mit sich und einer scheinbar nutzlosen Tätigkeit beschäftigt. Der Winter ist die letzte Jahreszeit in einem Menschenleben. Er ist aber nicht nur kalt, sondern auch verspielt und poetisch.
Frau Schneebeli hadert damit, nicht mehr nützlich zu sein und Hilfe zu brauchen. Ist das ein Problem unserer Gesellschaft?
Ja, bei uns will man nicht zur Last fallen. Wir haben für alles eine Institution. Nur so einfach ist es nicht. Der senegalesische Musiker Sadio Cissokho, der in meinem Stück den Spitex-Pflegefachmann spielt, hat mir viel über die alten Menschen im Senegal erzählt. Alt ist dort kein Schimpfwort. Die Alten geniessen sehr viel Respekt, man fragt sie um Rat und wenn sie krank sind, muss sich die Familie um sie kümmern. Es gibt eben keine Spitex, keine Altersheime. Aber wollen wir das?
In unserer Gesellschaft leben alte und junge Menschen tendenziell getrennt. Hat man keine funktionierende Familie, gibt es als betagter Mensch wenig Berührungspunkte mit Kindern und Jugendlichen. So passiert es leicht, dass die Welt sich verändert und man nicht mehr dazu gehört.
Frau Schneebeli empfindet Vorurteile gegenüber ihrem dunkelhäutigen Spitex-Pfleger. Wie ist es für Sie, diese Perspektive zu verkörpern?
Mir macht es grosses Vergnügen, diese Perspektive einzunehmen und ich finde es spannend auf der Bühne kein Gutmensch zu sein. Jedoch versuche ich Frau Schneebeli so zu spielen, dass man ihr unwissend rassistisches Verhalten nachvollziehen kann. Die Figur soll ein Eigenleben haben, sich entwickeln, ausgestattet mit einem Bewusstsein, das aus Fleisch und Blut besteht. Doch wie es am Ende ausgeht, will ich nicht verraten.
Gab es einen «Aha-Moment» während des Einübens von «Chuenägele»?
Viel Musik und gemeinsames Singen könnte so einige Tabletten ersetzen. Das klingt einfach und gilt sicher nicht für alle Leiden. Doch die Psyche, wäre schon mal «A little happy». Wenn verschiedene Kulturen sich gegenseitig beeinflussen und zusammenfliessen entsteht eine dynamische Energie, die uns neue Horizonte eröffnet. Das können unterschiedliche Kulturen wie auch Generationen sein.
Dieser Artikel erschien in gekürzter Version am 02.09.2025 im Affolter Anzeiger. E-Paper 02.09.2025, S.11
Zur Person
Vreni Achermann ist Theaterautorin und Schauspielerin des Theaters visch&fogel. Sie spielt in ihrem Stück „Chuenägele – Eine leise Utopie“ Frau Schneebeli, welches am Samstag, 6. September 2025, 19.00 Uhr, im Kasinosaal Affoltern a. A. aufgeführt wurde.
Inspiration zum Stück boten Achermann die Erlebnisse ihrer eigenen Mutter mit der Spitex. Grundlage bildeten Gespräche mit einer Pflegefachperson und Person of Color, drei Seniorinnen und Spitex-Kundinnen, ergänzt mit den Rückmeldungen des Dramaturgen Ueli Blum und der Spitex-Chefin Kathrin Valkanover.